Das Täuferreich von Münster - skurriler Sektenkult?

Etienne Légat
Etienne Légat
April 6, 2025
7 min Lesezeit

Dort, wo Alter Fischmarkt und Roggenmarkt in den Prinzipalmarkt übergehen, erhebt sich die prächtige Markt- und Stadtkirche St. Lamberti. Die zwischen 1375 und 1450 errichtete Hallenkirche ist nicht nur für das beeindruckende Relief der Wurzel Jesse über dem Hauptportal bekannt, noch für die mutigen Predigten, die Kardinal von Galen hier während der NS-Zeit hielt. Berühmt – oder vielmehr berüchtigt – ist sie vor allem wegen der drei eisernen Körbe, die hoch oben am Turm hängen. In ihnen wurden Mitte des 16. Jahrhunderts die Leichen der Anführer der Täuferbewegung zur Schau gestellt. Aber wie kam es dazu, dass ausgerechnet diese Kirche so eng mit einer der dunkelsten Episoden der Stadtgeschichte verbunden ist?

Am Anfang war der Kirchturm...

Die Lambertikirche ist weit mehr als nur ein architektonisches Wahrzeichen – sie ist ein lebendiges Zeugnis der Geschichte von Münster. Ihre Ursprünge reichen zurück bis ins 12. Jahrhundert, als sie als romanische Basilika errichtet wurde. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Kirche mehrfach umgebaut und erweitert, wobei verschiedene Baustile wie Gotik und Barock Einzug hielten und ihre markante Silhouette prägten. Die heute überwiegend spätgotische Hallenkirche ist wohl schon die fünfte Ausführung an gleicher Stelle – so war auch der berühmte Kirchturm ursprünglich ein ganz anderer.

Die Lambertikirche in Münster vom „Drubbel“ aus gesehen.

Der massive Turm wurde über die Jahre mehrmals erhöht und um zwei spätgotische Geschosse ergänzt. Doch wurde der Turm dabei auch immer schwerer und neigte sich langsam gen Westen, wo er keine Stütze durch das Kirchenschiff hatte: Es bildeten sich Risse, der Aufstieg wurde immer gefährlicher und auch das Läuten der Glocken wurde eingeschränkt – schließlich ließ man den Turm abtragen und neu errichten.
Am neuen Turm wurden auch die drei Körbe wieder angebracht, die bis heute hoch über dem Zifferblatt der Uhr hängen. Diejenigen, die darin Ihr Ende gefunden haben, gehörten zu der Gesellschaft der sogenannten „Täufer“, seinerzeit auch als „Wiedertäufer“ verspottet. Ganze 18 Monate hatten sie die Herrschaft in der Stadt inne und machten Münster zum berühmt berüchtigten „Täuferreich“. Warum hat man die Körbe nach so langer Zeit wieder aufgehängt?

...dann kamen die Täufer...

Die Täuferbewegung entstand im 16. Jahrhundert als Reaktion auf die etablierten Kirchen und ihre Lehren. Die Anhänger der Täuferbewegung strebten nach einer radikalen Erneuerung des Christentums, die auf den Idealen der urchristlichen Gemeinde basierte. Sie lehnten die Kindertaufe ab und befürworteten die Erwachsenentaufe als bewusste Entscheidung des Glaubens. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit wurden die Menschen direkt als Säuglinge getauft. Da die Täufer diese Taufe jedoch nicht anerkannten und eine bewusste Taufe im Erwachsenenalter voraussetzten, kam es bei den meisten Anhängern zu einer zweiten Taufe. Daher wurden sie auch „Wiedertäufer“ genannt.
Im Jahr 1534 kam es in Münster unter der Führung von Jan Beuckelszoon, einem einfachen Schneider und Gastwirt aus Leiden in den Niederlanden, zur Errichtung des Täuferreichs. Man wartete auf die Ankunft des Herrn Jesus Christus und noch mehr auf den Tag des Jüngsten Gerichts – das Ende der Welt! Münster sollte das neue Jerusalem werden, wo sich alle gerechten Menschen versammeln würden. Darauf galt es sich vorzubereiten und so gründeten sie ihr eigenes Königreich mit Jan van Leiden, den sie zu ihrem König machten.

Dies ist eines der wenigen authentischen Bilder von Jan van Leiden – ein Kupferstich des Soester Malers und Kupferstechers Heinrich Aldegrever. Er hatte den „König der Wiedertäufer“ vor dessen Hinrichtung besucht und porträtiert.

Münster wurde zum Zentrum der Täufer, in der radikale religiöse und soziale Experimente durchgeführt wurden. Jan van Leiden etablierte eine strenge religiöse Herrschaft und führte die Erwachsenentaufe sowie die Vielehe für Männer ein. Die Stadt wurde jedoch bald durch ihren eigenen Fürstbischof Franz von Waldeck belagert, der Münster zurückerobern wollte. Die Täufer konnten der militärischen Übermacht des Bischof lange standhalten. Erst nach 13-monatiger Belagerung fiel das Reich der Wiedertäufer schließlich durch Verrat.

...und schließlich die Körbe

In der Nacht vom 24. auf den 25. Juni 1535 fielen bischöfliche Kriegsknechte über das Kreuztor in Münster ein und verrichteten ein wahres Blutbad. Durch einen Hinterhalt hatten die bischöflichen Truppen Zugang zur Stadt erhalten. Rund 650 Verteidiger wurden dabei getötet, die Frauen wurden aus der Stadt vertrieben – einzig der Hauptprediger Bernd Rothmann und der sogenannte „Reichskanzler“ Heinrich Krechting konnten entkommen. Der Täuferkönig selbst konnte sich mit seinen Gefolgsleuten durchkämpfen, hätte sich vielleicht sogar retten können, doch ließ er sich mit Krechtings Bruder Bernd und dem Stadthalter Bernd Knipperdolling zu Geiseln nehmen. Ihre einzige Bedingung war es, die Bürger zu verschonen, die sich in den Kellern versteckt hatten und das Blutbad endlich zu beenden. Der Bischof und sein Heer willigten ein und nahmen die drei vermeintlichen Anführer der Täufer gefangen.
Die Gegenreformation nahm ihren Lauf und erzwang unter Strafandrohung die Rückkehr zum „rechten Glauben“ von allen Täufern. Da Jan van Leiden, Bernd Knipperdolling und Bernd Krechting sich jedoch nicht bekehren lassen wollten, wurden sie zum Tode verurteilt. Unter den Augen tausender Zuschauer wurden sie am 22. Januar 1536 auf dem Prinzipalmarkt vor dem Rathaus zunächst drei Stunden lang mit glühenden Eisen gefoltert, dann erdolcht und schließlich zur Abschreckung öffentlich zur Schau gestellt. Ihre von Brandwunden übersäten Leichen wurden in eisernen Körben am Turm der Lambertikirche aufgehängt. Noch 1585 sollen letzte Knochenreste zu sehen gewesen sein.

Die Original-Körbe, welche 1927 und 1945 restauriert wurden, hängen noch heute am Turm.

Die Entscheidung, die Körbe der Täufer an der Lambertikirche aufzuhängen, war sowohl symbolisch als auch strategisch. Als Marktkirche war sie zu dieser Zeit eng mit der Stadtverwaltung und den religiösen Autoritäten verbunden, die die katholische Kirche und die städtischen Behörden repräsentierten. Sie war also ein markanter Ort, der sowohl religiöse als auch politische Bedeutung hatte. Letztlich gehörten sicher auch praktische Gründe dazu, da die Kirche ohnehin direkt am Ort des Geschehens lag und sich in unmittelbarer Nähe des Marktplatzes befand. Der Ort war gut sichtbar und konnte von allen Bürgern leicht erreicht werden, was die Wirkung der Bestrafung nochmals verstärkte.

Ein Mahnmal für die Zukunft?

Die Geschichte des Täuferreichs in Münster ist eine komplexe und tragische Episode, die die Spannung zwischen religiöser Überzeugung und politischer Realität aufzeigt. Sie wirft wichtige Fragen über Glauben, Freiheit und Macht auf und hinterlässt bis heute eine faszinierende Spur in der Geschichte von Münster und darüber hinaus.
Noch heute hängen die Körbe am Kirchturm – sie wurden nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sogar bewusst wieder angebracht. Für die einen ein Sieges- oder Warnzeichen, für andere ein Mahnmal oder Kunstwerk. Es gibt Stimmen, die fordern, die Körbe als Relikt des Mittelalters und eines längst überholten Rechtssystems abzuhängen. In der heutigen Zeit wird Brutalität als nicht mehr akzeptable Form der Strafe verachtet und die Geschichte hinter den Körben wirkt für viele Menschen verstörend oder unangemessen.
Jedoch gibt es auch Stimmen, die sagen, dass die Körbe als Teil des kulturellen Erbes und der Erinnerung an die düstere Geschichte von Münster bewahrt werden sollten. Sie dienen als Symbol für alle Glaubensrichtungen und Weltanschauungen, die es in Münster ebenfalls gab, die sich jedoch genauso wenig durchsetzen konnten, wie die Täufer – seien es Arbeiterbewegungen, Nationalsozialisten oder Studentenproteste. Die Körbe erinnern an wichtige Fragen über Glauben, Macht und Freiheit und verdeutlichen bis heute die Komplexität menschlicher Beziehungen und Überzeugungen.

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